A. Lauser u.a. (Hrsg.): Migration und religiöse Dynamik

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Titel
Migration und religiöse Dynamik. Ethnologische Religionsforschung im transnationalen Kontext


Herausgeber
Lauser, Andrea; Cordula, Weissköppel
Erschienen
Bielefeld 2008: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Schulte-Umberg, Katholisch-Theologische Fakultät, Institut für Historische Theologie - Kirchengeschichte, Universität Wien

In der Einleitung des hier zu besprechenden Bandes heben die beiden Herausgeberinnen hervor, ethnologische Forschungen hätten «in den letzten 15 Jahren dazu beigetragen, die transnationale Perspektive in der Migrationsforschung zu etablieren.» (7) Migration werde als komplexer Prozess verstanden, der die Wanderungsentscheidung, den Wanderungsvorgang, Integrationsprozesse und die Bindungen zum Herkunftsland nicht als voneinander isolierte Vorgänge zu betrachten erlaube, sondern «als sich gegenseitig bedingende und formende Prozesse.» (7) Religion habe aus Perspektive der ethnologischen Transnationalismusforschung dabei eine exemplarische Rolle erhalten, weil insbesondere für Diaspora-Gruppen gezeigt werden könne, wie diese unter Bedingungen des Wandels für Kontinuität sorge. Religion bzw. Formen der Religiosität selbst durchlaufen dabei vielfältige Prozesse der Aneignung und Verwandlung, wie den Beiträgen des Sammelbandes sehr anschaulich zu entnehmen ist.

Den Beiträgen geht eine Einleitung der Herausgeberinnen voran, in welchem sie einen Überblick über die Rolle von Religion in der gegenwartsbezogenen Migrations- und Transnationalismusforschung zusammenstellen. Fachspezifisch begründet plädieren sie für eine Mikro-und Kontextanalyse. Vornehmlich soll es um religiöse Handlungen und deren Funktion im transnationalen Kontext gehen. Unterscheidet man zwischen religiösen Werten und Normen auf der einen und religiöser Praxis auf der anderen Seite, so werden hier also vornehmlich letztere berücksichtigt. Das mag aus religionshistorischer oder gar christentumsgeschichtlicher Perspektive bedenklich sein. Aus ethnologischer Perspektive erscheint dieser Ansatz jedoch gut begründet. Denn durch die Arbeit «ethnographische[r] ForscherInnen, die den MigrantInnen an unterschiedliche Orte ihrer Lebensgestaltung folgen und an diesen teilhaben» (11), können neue Einsichten in das komplexe Verhältnis von Migration und Religion gewonnen werden. In einem zweiten Schritt, der freilich bewusst nicht gegangen wird, kann ein solcher Ansatz dann auch für systematisierende Überlegungen ertragreich sein.

Der Band weist zwei Teile auf, die einer je eigenen Leitfrage folgen. Der erste Teil widmet sich der Frage nach religiösem Handeln zwischen Transnationalismus und Integration. Von den fünf Beiträgen befassen sich die ersten vier mit christlichen Migrantinnen und Migranten, während der fünfte Beitrag sich auf eine nicht im Christentum beheimatete Form von Religiosität bezieht. Im Einzelnen geht es um migranteninitiierte charismatische Gemeinden in Berlin, die sudanesische Diaspora in den USA sowie – in einem weiteren Beitrag – die sudanesische Diaspora in Berlin, die haitianische Mission der katholischen Kirche in Montreal sowie Formen afrokubanischer Religiosität in Deutschland. Als gemeinsames Ergebnis der Beiträge über im Christentum beheimatete Migrantinnen und Migranten könnte festgehalten werden, welche Bedeutung eben diese Beheimatung in einer neuen fremden ‹Heimat› haben kann. Denn sie kann zu einem Status- und Ressourcengewinn beitragen. Spannend wäre es, langfristig zu beobachten, ob die Diasporabildung von Dauer ist oder gerade durch den Zugewinn die Assimilation beschleunigt wird. Diasporabildung bedeutet zudem nicht zwangsläufig Homogenität innerhalb der Gruppe, da, wie in einem Beitrag deutlich gezeigt wird, Religion mitunter auch ein bedeutendes Instrumentarium für die «Artikulation von kultureller sowie sozialer und klassenspezifischer Differenz» (120) ist.

Der zweite Teil des Buches thematisiert, wie religiöse Praxen über die Situierung im transnationalen Feld Aufschluss geben können. Generell lässt sich vielleicht sagen, dass hier aus der Mikroperspektive die Funktion von Religion für die Verortung im Wechselspiel von Herkunfts- und migratorischer Identität plastisch nachzuvollziehen ist. Inhaltlich widmen sich die Beiträge Ahnenverehrung und Todesritualen als Ausdruck religiöser Vorstellungen Vietnams, philippinischen Pflegekräften in Israel, der pfingstlerischen Wiedergeburt im Kontext nigerianischer Migration auf Teneriffa, den Praktiken muslimischer ‘Aissawa-Sufis während marokkanischer Hochzeitsfeste und Ritualen der DanzantesAztecas in Mexiko, einer jüngeren religiösen Bewegung in Mexiko. Es ist z. B. sehr erhellend zu lesen, dass die Philippinas ihre Arbeit im «Heiligen Land» nicht nur als Folge ökonomischer Notwendigkeit auffassen, sondern auch als spirituellen Aufenthalt, der sie bei einer Rückkehr in das Herkunftsland zu religiösen Expertinnen machen kann. Diese Verschränkung von Religion und sozialer Lage lässt sich sehr gut an Pilgerausflügen innerhalb Israels beobachten. Sie sind zum einen rituell-religiöse Verpflichtungen und zum anderen Sozial-und Gemeinschaftserlebnisse der unterprivilegierten Migrantinnen.

Die eingangs angesprochene transnationale Ausrichtung der Migrationsforschung ist kein Privileg der Ethnologie, sondern gilt ebenso für die historische Migrationsforschung. Ethnologen und Historiker arbeiten zwar zwangsläufig mit unterschiedlichen Ansätzen. Dennoch werden auch Historiker, sofern sie sich auf den im Band gepflegten ethnologischen Diskurs einzulassen gewillt sind, denselben mit Gewinn lesen können. Denn die historische Phantasie, d.h. die Fähigkeit zum Hineinversetzen in die Welt der Migrantinnen und Migranten früherer Epochen kann dadurch geschult werden.

Zitierweise:
Thomas Schulte-Umberg: Rezension zu: Andrea Lauser/Cordula Weissköppel (Hg.), Migration und religiöse Dynamik. Ethnologische Religionsforschung im transnationalen Kontext, Bielefeld, Transcript Verlag, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 538-540

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